Kiefern, Schilf und wilde Möhren

Kajakfahrten an der Küste von Saaremaa/Estland

Die See ist aufgewühlt und gischtend rollen die Wellen über unser Kajakdeck, mit Windstärke 6 bläst es schräg von vorne. Die Menschen auf Saaremaa behaupten beim Anblick der schäumenden See, dass der archaische Inselheld Suur Töll wieder unterwegs ist und mit großen Felsbrocken nach Vanatülu, dem diabolischen Widersacher wirft, dass die See aufspritzt. Irgendwann sind wir es Leid nicht vorwärts zu kommen, sondern eher ausgesetzt den Launen eines Suur Töll mit den Ostseewellen zu kämpfen.

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Wir steuern ein Schilfufer an und erholen uns in der warmen Sonne zwischen Kiefern und Schilf. Die weißen Blütendolden der wilden Möhren schwanken im Wind. Seewasser, Kiefern und die Kräuter der Sumpfwiesen verströmen den typischen Duft, der die Landschaft kennzeichnet: Die Region des Vilsandi-Nationalparks im Westen der großen Ostseeinsel Saaremaa in Estland.

Wir sind auf der geographischen Höhe von Norköping, etwas südlich von Stockholm – nur nicht auf der Westseite der Ostsee, sondern auf der Ostseite und da ist es ein Teil von Estland, rund 2.400 km nordöstlich vom VKB in Bonn: 650 km auf deutschen Autobahnen bis Kiel, 1.200 km mit der Fähre über die Ostsee, schnurgerade nach Nordosten. Dann von Klaipeda, dem ehemaligen Memel, 500 km durch Litauen und Lettland nach Estland. Unsere Idee war es, wieder einmal mit dem Kajak die Küsten der größten Insel Estlands kennen zu lernen. Einen Kampf gegen Suur Töll, dem Inselriesen, hatten wir uns dabei nicht vorgestellt.

Im Westen vor der Küste liegt Vilsandi, die größte der 161 Inseln vor Saaremaas Westküste, die hier im Nationalpark Vilsandi zusammengefasst sind. Nordische Vögel wie Eiderenten, Nonnengänse und Mantelmöwen und auch Ringelrobben, die hier ihre größte Kolonie in der Ostsee haben, können beobachtet werden. An Land gibt es bis zu 32 Orchideenarten und Insekten wie die bunten Schmetterlinge, die im Windschatten über den Blumenwiesen gaukeln. Am frühen Morgen werden wir von lauten Kranichrufen geweckt, es ist ein Naturparadies, aber wie wir feststellen: Ein windiges.

Suur Töll scheint sich weiter auszutoben, das schäumende Wasser wird zum ständigen Anblick. Zwar bieten die vielen Buchten und Inseln Schutz vor allzu hohen Wellen, aber nach drei Tagen Wind in den Haaren wollen Anke und Regina auch einmal wieder ruhigeres Wasser und vernünftigere Frisuren, statt der windzerzausten und salzwassergetränkten Strähnen. So steuern wir mit unseren Kajaks wieder unseren Ausgangspunkt, den kleinen Hafen von Kihelkonna an.

Die gesamte Nordküste mit ihren Buchten, Kiesstränden und Steilfelsen liegt dem Westwind ausgesetzt. Bei dem anhaltenden Nordwester donnert eine weiß schäumende Brandungswelle an den Strand. An den Halbinselkaps bricht die Insel bis zu 25 m hoch senkrecht in Steilfelsformationen ab. Im Silur sind diese Muschelkalkablagerungen entstanden, vor 440 Millionen Jahren, damals, als die Festlandplatte noch am Äquator lag ehe sie mit der Kontinentaltrift in Richtung Norden bis zum 58. Breitengrad verschoben wurde. Im Gestein entdecken wir versteinerte Seelilienrest, Brachiopoden und andere, zu Stein gewordenen Reste aus kaum vorstellbaren Zeiten vor unserer Zeit.

Nur der harte Nordwestwind wühlt in unseren Haaren und bringt uns in die Gegenwart zurück. Am 28.09.1994 sank nur 30 Seemeilen nordwestlich die M/S Estonia, innerhalb von nur 15 Minuten und 852 Menschen starben im eiskalten Ostseewasser. Wir stehen an dem kleinen Steinkreuz im Ostseewind und sehnen uns plötzlich nach ruhigen, warmen Sandbuchten und einladenderen Ostseestränden.

Eine Insel ist da etwas Schönes: Es gibt immer eine Leeseite. Aber auch diese muss erkämpft werden, zunächst mit unseren Autos. Durch den Ort Kihelkonna geht es weiter zum Hauptort der Insel Saaremaa Kuressaare, dem früheren Arensburg. Gegenüber dem Kurhaus stehen weiße und grüne Holzhäuser im Baustil vornehmer Bäderarchitektur. Vor hier aus geht es direkt auf die alte Wasserburg. Über eine große Holzbrücke erreichen wir die Burganlage, eine aus dem 13. Jahrhundert stammende trotzig wirkende Bischofsburg.

Kurz nach den letzten Häusern der Stadt wird es wieder einsamer, wir erreichen an der Südküste von Saaremaa einen kleinen malerischen Ort mit maroder Holzwindmühle. Dann geht ein abenteuerlicher Feldweg in Richtung Wasser. Eigentlich sind wir verwöhnt: Im gesamten Baltikum sind die Hauptverkehrsstraßen inzwischen asphaltiert und sehr gut ausgebaut. Nur die Nebenstraßen sind staubige Schotterpisten. Jetzt wird es sogar abenteuerlich. Zwei Mal setzt der Wagen rumpelnd auf, ehe wir auf dem holperigen Feldweg das Ostseewasser der Südküste von Saaremaa erreicht haben. Ein schöner Sandstrand, eine herrliche Stelle zum Zelten und zum Start einer Paddeltour.

Silbermöwen und Küstenseeschwalben kreischen schrill. Weiter westlich von uns rufen Kraniche – es klingt in meinen Ohren als sängen sie uns ein herrliches Abendlied zu Schmorkartoffeln und Sülze – die abenteuerliche Autofahrt und das anschließende Ostseebad haben schließlich hungrig gemacht.

Bald sitzen wir vor den Zelten und genießen einen Sonnenuntergang und dann den groß und hell aufsteigenden Vollmond. Die Harmonie einer ruhigen Ostseenacht fängt uns wieder einmal ein, so wie wir es von den Schären her kennen, und der wilde Suur Töll ist bald vergessen.

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Wir können uns neuen Aufgaben widmen: Da wir die Autos kontrolliert unterstellen wollen, fahren wir zurück ins Dorf und haben dort keine Probleme, unsere zwei Wagen in den Vorgarten einer Familie zu stellen. Freundlich geben sie uns noch 10 Liter Wasser. Allerdings betonen sie, dass sie dieses Leitungswasser nicht zum Trinken benutzen, es schmeckt etwas dumpf nach Eisen. Bald haben wir je Mannschaft 15 Liter Trinkwasser, Nahrung und Ausrüstung für eine Woche, Zelt und Kleidung in unseren zwei Zweierkajaks verstaut und sind startklar. Das Ostseewasser ist bleiern. Es ist windstill, aber bewölkt, drückend.

Sutu Lath heißt die große, ca. 6 km breite Bucht, die vor uns liegt. Wir passieren eine kleine Hafenanlage. Gelb-blaue Gewerbebauten eines Fischereibetriebes an einer grauen Betonkaje – wenig einladend für kleine Boote. Die Bucht zu queren und an der flachen Küste entlang zu paddeln, ist bei dem ruhigen Wetter für alle ein Vergnügen. In einer Bucht landen wir an, das Wasser ist sehr flach, das Ufer steinig. Es sind wieder Muschelkalkplatten mit den üblichen Versteinerungen aus dem Silur, dazwischen wachsen üppig violett blühende Strandastern, so dass wir in einer herrlichen Blumenwiese sitzen und unser Mittagsbrot essen, ehe wir uns in der Umgebung umsehen.

An Ostseeküsten liegen Land- und Salzwasserbiotope eng beisammen: Schilf, Binsen, Strandastern, Stranddreizack und die rosa Sterne des Tausendgüldenkraut wachsen eng zusammen mit dem gelben Rainfarn, violett blühenden Skabiosen, dem rosa Baldrian, die Natur kombiniert einen unvergleichlichen Duft und ein tolles Farbspiel.

Eine große Ringelnatter hat in dem feuchten Blütenmeer ihr Revier und verschwindet im Gebüsch.

Doch bald wird die Landschaft karger, auf einer weit in die Ostsee hinein ragenden Landzunge steht ein quadratischer weißer Leuchtturm. Sääretu heißt die Landspitze, ein karger Steinhaufen der aus großen Flachwassergebieten herausragt. Küstenschwalben und Möwen umfliegen uns kreischend. Die Findlinge im Flachwasser sind von den Seevögeln weiß gekalkt und so riecht es nach Vogelkot und Tang. Vor uns liegen so große Flachwasserzonen, dass wir weit ins Meer fahren müssen, um im knietiefen Wasser nicht auf die Felsbrocken aufzufahren, die massenhaft im Wasser liegen. Die Südküste von Saaremaa hat vielfach diese Flachwasserzonen, die wir so ausgeprägt bisher noch nicht erlebt haben.  Das flache Wasser geht unmittelbar über in Binsen- und Schilfbestände. Zum Glück finden wir immer wieder auch etwas höher gelegene Wiesen oder Kiesufer, die sich zum Zelten eignen. Herrliche Zeltmöglichkeiten mitten in der Natur, und die Flachwasserbereiche haben ihre Besonderheiten. Im seichten Wasser entstehen fast so etwas wie Wattgebiete, in denen Mantelmöwen, Silber- und Lachmöwen, Küstenseeschwalben, Rotschenkel und Alpenstrandläufer nach Nahrung picken. Bei diesigem Wetter verschwindet der Horizont im Grau der Ferne, so dass Himmel und Meer zu einem Traummedium ohne Grenzen verschmelzen. Anke setzt sich auf einen großen Findling und wirkt hier wie eine kleine Meerjungfrau im unendlichen Grau der See.

Bei solch Stimmungen wird es Zeit für eine Pfannkuchenparty, das ist ein Schwelgen in Genusswelten aus süßem Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade und Tee, und um die Stimmung noch auf den Höhepunkt zu bringen, fliegen 16 Kraniche über uns. Laut rufend landen sie unweit im seichten Wasser. Es ist ihr Schlafplatz, im Wasser sind sie sicher vor Füchsen und anderen Störfrieden.

Die Kraniche fliegen erst wieder auf, als einheimische Fischer ihr kleines Motorboot in die Bucht lenken, um die Netze zu leeren. Heute ist es ein guter Fang und es ist ein besonders guter Tag für uns, denn wir werden zur estländischen Sauna – quasi einem Kulterlebnis in Estland – eingeladen und sitzen bald am großen Tisch unserer neuen Freunde und genießen Pfefferminztee und saftige Johannisbeertorte. Unmittelbar erleben wir das idyllische Landleben, erfahren viel über das frühere Leben der Esten in dieser abgeschiedenen Ecke des Landes, das erst 1991 wieder seine Unabhängigkeit erlangte.

Die Abschiede von solch tollen Plätzen fallen immer schwer, aber wir wollen weiter paddeln und lassen uns deshalb gerne vom leichten Rückenwind vorwärts schieben. Wieder taucht in der Ferne ein Leuchtturm auf. Es ist der Leuchtturm auf der kleinen Insel Abrahu, er liegt nordöstlich vor uns, einige Kilometer vor der Küste. Wir halten uns dichter unter Land, müssen aber aufpassen. Die Steine, die der Inselriese Suur Töll hier im Flachwasser verteilt hat, liegen oftmals kaum sichtbar dicht unterhalb der Wasseroberfläche. Die Felsen, die aus dem Wasser ragen, sind auch hier weiß bekotet von den Seevögeln. Das schrille Gekreische der Möwen  und Seeschwalben wird noch intensiver, wenn wir zur Pause auf einer der kahlen Steinfelseninseln anlanden.

Ein großer Seeadler überfliegt die Flachwasserbereiche und scheucht Dutzende von Gänsen, Möwen und Seeschwalben auf.

Auf einem Steinwall hockt ein Trupp Kormorane, sie haben ihre Flügel zum Trocknen aufgestellt und sehen so aus wie schwarze Pleitegeier.

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Auf einer flachen Vogelinsel zelten wir bei dem ruhigen Wetter besonders gern. Die Jungvögel sind jetzt Ende Juli längst flügge und so stören wir keine Brutvögel mehr. Dafür können wir sie hier unmittelbar erleben und genießen ihre wilde Nachbarschaft.

Das Packen der Boote geht immer schneller, je länger wir unterwegs sind. Und an das kalte Ostseebad vor dem Frühstück haben wir uns längst gewöhnt. So werden die Tage der Weiterfahrt zur Routine, aber es bleiben die tiefen Eindrücke der unbegrenzten Weite, der Freiheit auf See und das Erleben der riesigen Naturräume.

Vor uns liegt wieder eine lange Landzunge mit großen Flachwasserbereichen und vielen Seevögeln auf den Felsen im Wasser.

Erst taucht im Grau vor uns die Silhouette eines Leuchtturmes auf. Dann, ca. 5 km weiter passieren wir ihn – es ist ein markanter Turm, die Fenster des gemauerten roten Turmes haben sogar Rundbögen und zieren das schöne Bauwerk. Ganz in der Nähe entdecken wir einen alten Geschützstandort oder Bunker. Während der Sowjetzeit war Saaremaa Sperrgebiet, Bootsfahrer wurden von Hubschraubern mit Steinen bombardiert und versenkt. Hier war ein Frühwarnsystem und eine Raketenbasis als Bollwerk gegen den Westen stationiert, eine Vergangenheit, welche die Urwüchsigkeit und den besonderen Charme der Insel bewahrt hat.

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Bald paddeln wir in Richtung Norden, das Ostende der großen Insel Saaremaa ist fast erreicht, jetzt kommen vor allem Schilf- und Flachwasserbereiche. Wir paddeln landeinwärts vorbei an Schilfinseln und Sumpfgebieten. Zwei Seeadler und die üblichen Küstenseeschwalben fliegen über uns und verschwinden, als wir eine kleine Anlegestelle erreichen.

Vier kleine Motorboote liegen auf dem Rasen am Ufer, schnell ist klar, dass wir unser Ziel Saarekula erreicht haben.

Mit uns kommen drei einheimische Fischer an. Ihr Fang besteht aus einer reichlichen Menge Barsche von der sie uns großzügig vier Fische schenken.

Nach Helmuts Art filetiert und in Eihülle gebraten mit Püree schmecken sie noch am nächsten Tag hervorragend frisch. Da haben wir noch einen Hauch von Saaremaa auf der Zunge. Wir sitzen zusammen vor den Zelten, es ist milde und eine schöne Abendstimmung – aber es ist schon wieder in Lettland. Denn wir haben wieder eine weite Strecke zurück nach Hause. Natürlich mit Besichtigungen der Lettischen Hauptstadt Riga, der romantischen Fischerorte am Ostseeufer Lettlands, der historischen Altstadt in Klaipeda und der kurischen Nehrung.

Staunend besichtigen wir das rotbraune Holzhaus mit den blauen Fensterrahmen, das Thomas Mann in Nidden als Sommerhaus bauen ließ und in dem er die Sommer 1930 bis 1932 verbrachte. Thomas Mann zitierte Alexander von Humboldt in einem Text, den er vor der Rotary-Gesellschaft gehalten hat. Humboldt soll gesagt  haben, dass man die kurische Nehrung gesehen haben muss… "wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll".

Wir haben noch ein weiteres wunderbares Bild in unserer Seele – das Bild von Saaremaa.

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